Meine neue Freundin, die Waage

Eine außergewöhnliche Freundschaft

Ich habe eine neue Freundin! Ich kann es fast kaum glauben, denn die neue Freundin war sehr lange mein größter Feind. Und was macht man mit Feinden? Man eliminiert sie. Und das habe ich mit größter Freude und Genugtuung getan. Ich habe sie verbannt an den verwinkelsten Platz in meiner Wohnung. In die verwinkelste Schublade im hintersten Zimmer. Hat das gut getan! Doch irgendwie war meine Waage immer in meinen Gedanken. Hm. Bei jedem Stück Schokolade, bei jedem Stück Sahnekuchen erschien sie bildlich in meinem Kopf und sprach: „Aha, wie viele Kalorien hat dieses Teil? Muss das denn sein? Hast Du nicht schon genug für heute?“ Und das hat mich manchmal ganz schön wütend gemacht. Was mischt sie sich ein, diese blöde Waage? Wenn sie mich nicht in Ruhe lässt, kommt sie in den Sperrmüll. Doch das habe ich nicht getan, denn irgendwie hat sie ja Recht! Immer diese Versuchungen, immer dieses schlechte Gewissen, immer diese Sucht nach mehr… An Ostern war es ganz schlimm: Die Schoko-Ostereier nahmen einen Platz in meinem Leben ein, der ihnen nicht zusteht. Ich konnte gar nicht mehr ohne Schoko-Ostereier über den Tag kommen.

„So geht es nicht weiter!“ dachte ich mir. Ich muss was tun, vor allem vor dem Hintergrund, dass meine Hose zwickte. Was sag ich, zwickte, es war ein unausweichliches „gleich platzt der Knopf ab“!

Also habe ich mir etwas überlegt. Ich ging nach dem Auswahlverfahren vor. Auf keinen Fall eine Diät! Dieses Jo-Jo-Spiel wollte ich mir nicht mehr antun. Davon hatte ich schon genug. Vielleicht das Prinzip FDH („friss die Hälfte“)? Nö, wenn ich esse, dann will ich es ganz essen, und nicht nur halb. Hm. Was bleibt noch? Nichts, ich muss da anders rangehen.

Da gibt es doch ein Sprichwort: „Wenn Du einen Kampf gewinnen willst, mach die Feinde Deiner Feinde zu Deinen Freunden.“ Das hört sich gut an. Was sind die Feinde meiner Waage? Schokoriegel, Sahnetorte, Spaghetti Eis und vieles mehr. Nun, wie kann ich die zu meinen Freunden machen? Wieso können diese Teile mich eigentlich sowas von in Versuchung führen? Das mach ich nicht mehr mit, ich möchte doch von diesen Versuchungen nicht abhängig sein! Und schon wieder lande ich bei mir und meinem Essverhalten, meinen Verhaltensweisen. Toll, da habe ich den Salat bzw. den Schokoriegel! Ich habe erkannt, dass es einzig und allein meine Verhaltensweise ist, die mich in Versuchung bringt. Nun schaue ich mir schweren Herzens diese Verhaltensweise an:

Wann esse ich? Normalerweise, wenn ich Hunger habe. Aber wenn ich darüber nachdenke, esse ich meistens, weil ich Appetit habe. Wie kommt Appetit zustande? Durch die Konfrontation mit guten Gerüchen oder etwa mit der Auslage im Schaufenster eines Cafés. Da liegt der Hund begraben! Ich brauch lediglich diesen Versuchungen keine Beachtung zu schenken. Ha, wie kriege ich das hin? Immer, wenn eine Versuchung lauert, halte ich innerlich innen, höre in mich hinein und frage mich: „Ist das jetzt Hunger oder Appetit?“ Tja, meistens ist es Appetit, und kein Hungergefühl. Und wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, dann muss ich mir eingestehen, dass mein Magen schon seit sehr langer Zeit nicht mehr geknurrt hat. Magenknurren ist ein typisches Anzeigen von Hunger. Also gehe ich nur noch nach meinem Magenknurren. Und siehe da, Versuchung ade!

Ich habe verinnerlicht, dass ich mich nicht mehr vom Appetit verleiten lasse, sondern ausschließlich nach meinem Hungergefühl gehe. Klar, es gibt auch Ausnahmen, aber die sind eben nicht die Regel, sondern wirklich eine große Ausnahme.

Seit ich so verfahre, ist die Verbundenheit zu meiner Waage gestiegen, bis ich sie letztendlich aus ihrem Verlies befreit habe. Jetzt steht sie im Bad und sagt jeden Morgen zu mir: „Guten Morgen, meine Freundin. Ich wünsche Dir einen schönen Tag.“

Diesen Beitrag wurde von Petra König, Leiterin der „Schule des Erwachens“ verfasst.